Was bewegt die Menschen dazu, ihr Zuhause für andere Menschen zu öffnen, die ihnen völlig fremd sind? Ich habe schon einmal, lange vor Airbnb, in der Schweiz ein Zimmer mit Frühstück gebucht. Damals dachte ich, ich käme in eine Pension, aber es war das Privathaus der Wirtin, und ich saß zum Frühstück in ihrem Wohnzimmer, während sie um mich herum werkelte. Die Situation war mir seltsam vorgekommen – dieser Einblick in ihr privates Leben. Er machte mich befangen, weil ich nicht damit gerechnet hatte.
Jetzt ist genau das das Geschäftsmodell von Airbnb: Privatleute vermieten ein freies Zimmer oder das Schlafsofa im Wohnzimmer. Austausch inklusive. Aber nicht alle machen mit. Viele vermieten einfach Ferienwohnungen, so wie Margaret in Camden ihr kleines Cottage. Und dann gibt es Leute wie D. und ihren Mann, die einfach so tun, als wäre ihr Gast nicht da.
Die beiden sind die Gastgeber des letzten über Airbnb gebuchten Quartiers auf meiner Reise, in Boston, genauer: Cambridge. Das einzige Zimmer, das ich mir nicht in aller Ruhe ausgesucht habe. Es musste schnell gehen, weil Tricia überraschend wieder abgesagt hatte.
Und das führt nun zu dieser Erfahrung: Ich komme abends zurück aus der Stadt, sie sitzen in dem großen offenen Raum vor meinem Zimmer, unterm Dach ihrer hübschen Holz-Doppelhaushälfte. Er blickt nur ganz kurz hoch, sagt Hi und sieht wieder auf seinen Computer. Sie ringt sich ein „Wie war der Tag?“ ab, vermutlich, weil ich einen Moment zu lange vor ihnen stehen geblieben bin. Als ich antworte, kramt sie sich aber schon wieder in ihren Papieren auf dem Schreibtisch.
Das war schon vorgestern bei der Anreise so – nur die nötigsten Höflichkeiten werden ausgetauscht. Und nein, eigentlich noch nicht einmal die. Denn wenn jemand ins Haus kommt und „Hallo!“ sagt, würde derjenige, der Zuhause ist, sich doch normalerweise kurz zeigen und zurück grüßen. Hier kam das „Hallo“ am ersten Abend aus irgendeinem Zimmer – und dann hörte ich nur die Tür ins Schloss fallen.
Das Ignorieren meiner Anwesenheit geht so weit, dass sie um Mitternacht direkt neben meiner Zimmertür den Wäschetrockner angestellt haben. Ich hatte schon geschlafen. Hatten sie vergessen, dass ich hier bin? Ich würd’s ihnen zutrauen.
Der Unterschied zu den beiden Gastgeberinnen in Portland und Southwest Harbour könnte kaum größer sein. Die bieten jedem ihrer Airbnb-Gäste Frühstück und Gespräch an, halten für sie Broschüren über die Attraktionen ihrer Heimat bereit und wollen abends wirklich wissen, wie der Tag gelaufen ist. Außerdem interessieren sie sich dafür, wo ihre Gäste herkommen, was sie machen, wenn sie nicht auf Reisen sind und was sie in ihre Gegend geführt hat.
Vielleicht ist das auch nicht für jeden das Richtige, aber wer sich für diese Art zu reisen entscheidet, stellt sich eben auf diese immer neue Ungewissheit ein: Wo lande ich? Was passiert dort? Genau diese Ungewissheit – die man aber online vorab über Bilder, Beschreibungen anderer Gäste und Selbstbeschreibung der Vermieter in Grenzen halten kann – macht den Reiz aus. Denn es ist klar, dass auf jeden Fall etwas Interessanteres passiert als in Hotels oder Motels, wo außer Profi-Rezeptionisten, Standard-Möbeln und dem Fernseher nichts geboten wird.
Mir wird nun also die Erfahrung geboten, mich wie ein unsichtbares Hausgespenst zu fühlen. Immerhin aber ist mein Zimmer groß, hell und hat einen eigenen Balkon. Und ich kann zu Fuß zum Harvard-Campus gehen. Das ist herrlich, deshalb atme ich ein paar Mal tief durch und spiele einfach weiter Hausgespenst. Der Hund scheint mich übrigens sehen zu können. Vermutlich mögen seine Besitzer keine fremden Menschen in ihrem Haus, aber sind auf das Geld angewiesen. Denkbar.
Das Geld war natürlich auch einer der Gründe, warum Tricia und ihr Mann im Januar anfingen, ihr freies Zimmer an Reisende zu vermieten. Aber sie hatten noch einen weiteren: Sie fanden es toll, die Welt zu sich einzuladen. 40 Gäste hatten sie insgesamt, und nur bei zweien waren sie froh, als sie wieder abreisten. Dann kam ihr Vermieter hinter ihr kleines Nebengeschäft, und es gefiel ihm nicht. Tricia musste mir (und vielen anderen) absagen. Wir haben uns trotzdem noch auf einen Kaffee verabredet für die Zeit, wenn ich in Boston bin – woran man gut sehen kann, dass sie sich eben auch für die Menschen interessiert.
Als Tricia meine SMS gestern beantwortete, lief ich gerade, allen Ernstes mit dem Fotoapparat um den Hals gehängt und dem Reiseführer in der Hand, auf dem „Freedom Trail“ von Boston und bestaunte die historischen Stätten der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Wir trafen uns kurze Zeit später im Café Thinking Cup, das Bostoner mögen und das ich ohne sie nie gefunden hätte.
Nach einer Tasse Kaffee nahm sie mich dann mit auf einen Hundespaziergang, den sie für eine Freundin erledigte. Und als der Hund wieder wohlbehalten in seiner Wohnung war, zeigte Tricia mir noch mehr Bostoner Sehenswürdigkeiten, ihre Lieblings-Straße – die berühmte Newbury Street-, und ein Café, in dem wir hausgemachtes Ginger Ale tranken.
Und, richtig, während all dieser Unternehmungen tauschten wir uns fix über unser Leben aus, bevor sie mich noch zu ihrem Kinoabend einlud, zu dem sie sich jede Woche mit einer Freundin trifft. Wir sahen dann einen Dokumentarfilm über die wachsenden Probleme des US-College-Systems – mindestens so erhellend wie ein Vortrag im Heimatverein. Vor allem, nachdem ich gestern erst ein Nickerchen auf dem berühmten Harvard Yard gehalten habe, der immer noch ein echter Sehnsuchtsort für viele schlaue Studenten ist.
Und davon hätte ich D. und ihrem Mann auch erzählt, schließlich sind sie selbst beide Harvard-Absolventen und müssten Interesse an dem Thema haben. Aber andererseits haben sie mittlerweile der Wissenschaft Adieu gesagt und ein Restaurant aufgemacht. Und nachgefragt haben sie ja sowieso nicht.
Als nächstes fahre ich in die Catskill Mountains. Auf Wiedersehen, Küste! Und der Ort dort ist offenbar offener für die Geschichten seiner Besucher: Meine Gastgeberin, bei der ich für ein paar Stunden Gartenarbeit täglich Kost uns Logis bekomme, schrieb mir gestern von zwei jungen Franzosen, die bei ihr untergekommen seien. Sie waren auf ihrem Work-and-Travel-Trip offenbar versehentlich bei einer Sekte gelandet. Dann doch lieber zwei desinteressierte Restaurantbesitzer.
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