Die Frau im braunen Kleid

Avatar von Frl. Grankvist

Das erste Mal kreuzte sie meinen Weg, als ich vom Sport nach Hause ging: Die Frau im braunen Kleid. Braun klingt nicht gut für ein Kleid oder für irgendwas, was Menschen sich als schön vorstellen sollen, aber es sah gut aus: dunkelbraun mit milchkaffeebraunen kleinen Kreisen. Ärmellos, das Oberteil eng anliegend, dazu ein weiter Rock bis zu den Knien.

Es sah aus, als hätte die Frau es gerade ausgepackt und trüge es zum ersten Mal, weil endlich der Sommer da ist und sie dieses Kleid, auf das sie sich schon so lange gefreut hat, endlich tragen kann. Sie trug es gerne und gut, und schwebte damit wie ein Gruß aus eleganteren Zeiten über den anderen, die profanes Zeug angezogen hatten, und meterweit über mir – ich war im Schlabberlook unterwegs und noch unschön rotgesichtig von der erlebten Anstrengung. Und dann musste ich an New York denken.

An sich kein Wunder, schließlich werde ich bald dort sein und dann geht es nur noch um New York, aber diese Erinnerung daran war besonders. Ich hätte der Frau im braunen Kleid gerne kurz ein Kompliment gemacht. Sie haben da ein wirklich tolles Kleid an, oder so. Als ich nämlich einmal in New York war, hat das eine Frau zu mir gesagt. Auf offener Straße, im Vorbeigehen.

Ich hatte mein Lieblingskleid an, und ich konnte es nicht glauben. „That’s an adorable dress“, sagte sie, lächelte und verschwand auch schon wieder, ich glaub, sie lief eine Treppe zur U-Bahn runter. Und wer sowas schon mal gesagt bekommen hat von einem völlig fremden Menschen, ohne Vorwarnung und Grund, der weiß, dass das die Stimmung ziemlich heben kann. Gerade noch war ich etwas verloren zwischen all den Menschen auf irgendeinem breiten SoHo-Bürgersteig getrottet. Aber jetzt wusste ich ja, dass mein Kleid adorable war. Und ich hatte fast so etwas wie ein Gespräch mit einer netten Frau gehabt (hatte mich schließlich bedankt bei ihr). Mit einem Mal sah alles viel leichter und schöner aus.

Nun ist meine kleine Stadt nicht New York, und die Frau im braunen Kleid sah nicht verloren aus. Aber sie war auf dem Weg zu einer Arztpraxis, soviel konnte ich sehen. Wer weiß, was sie plagte, vielleicht hätte ihr ein Kompliment zwischendurch gut getan. Stattdessen bin ich nach Hause gegangen und habe an New York gedacht. Und an den Artikel, der letztens in irgendeiner Zeitschrift stand: In Amerika würden sich fremde Menschen Komplimente machen, und es wäre Zeit, das hier auch einzuführen, stand da.

Ich würde gerne zustimmen, aber es stellte sich heraus, dass es so leicht nicht ist, wenn es nicht zum kulturellen Repertoire gehört. Denn, wie seltsam: Ich bekam eine zweite Gelegenheit, und auch die ließ ich verstreichen. Ich war, viele Stunden später, in der Stadt in einem Einkaufsladen, und wenige Meter weiter: die Frau im braunen Kleid. Ganz ehrlich, das fand ich erstaunlich. Aber ich war mit meinen Einkäufen beschäftigt oder mit meinen New-York-Gedanken. Oder damit, dass sowas hier bei uns nunmal nicht so einfach geht. Also hab ich nichts gesagt. Aber heute suche ich mir jemanden, dem ich ein Kompliment machen kann. Ich fange zum Üben einfach an mit Leuten, die ich kenne.

NewYork


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