Der erste Abend an einem neuen Ort: Wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, wo er gelandet ist, sollte einen Blick in den Veranstaltungskalender der Lokalzeitung werfen. Das hat mir Carol klar gemacht, meine Zimmer-Vermieterin in Southwest Harbour. Sie schwankte noch, welchen Vortrag sie an diesem Abend hören wollte. Zur Wahl standen „Die Bedeutung der Bienen für Maine“ und „Bob Quinn, ein Geschichtenerzähler von Eagle Island“. Natürlich war ich für Bob Quinn – auch, wenn mir der Name nichts sagte. Hauptsache, Geschichten.
Carol war es recht – und nicht nur das: Vor die Arbeit setzte sie das Vergnügen und zeigte mir ihre Lieblingsorte in dieser ihrer Wahlheimat. Sie zieht nämlich das raue Maine dem sonnigen Kalifornien vor – seit einigen Jahren sogar im Winter, nachdem sie zuvor schon viele Sommer hier verbracht hat (dafür gibt es in Maine ein Verb: „she summered here“).
Das härtere Klima stört sie nicht, die Landschaft und vor allem das kleinstädtische Leben haben sie überzeugt. Und der Golfclub. Früher mal eine Farm – das rote Gebäude im Hintergrund war die Scheune – heute Grün wohin das Auge reicht.
Von dort führt der Weg am Wasser des Somes Sound vorbei – einst wurde er als Fjord bezeichnet, jetzt bescheidener als „Fjard“, wie Carol erzählt, weil ein paar spezifische Fjord-Merkmale fehlen. Kreativ von den Gewässer-Experten. Fjard.
Die nächsten Hummer-Fallen-Stapel fallen gleich am Ortseingang auf – „Hier gibt es nur noch Hummer und Tourismus“, sagt Carol. Die Kabeljau-Fischerei sei tot, das Verschwinden des Kabeljaus ein Grund, warum es immer mehr Hummer gebe und die Preise gesunken seien. Und die Sardinen-Fabriken seien tot. Also die, in denen Sardinen in Büchsen gefüllt wurden. Vielleicht kein abwechslungsreicher Job, aber er bot eine weitere Möglichkeit, hier oben zu leben. Ein Thema, das im Laufe des Abends noch öfter auftauchen würde.
Auf unserem Weg in den Ortskern dann eine laute Enttäuschung: Southwest Harbour präsentiert sich eigentlich als „The Quite Side“ von Mount Desert Island – als die ruhige Seite der Insel neben dem trubeligen und touristisch blinkenden Bar Harbour. Leider wurde hier vor ungefähr 100 Jahren beim Bau der Kanalisation gepfuscht, und das Problem wird ausgerechnet jetzt behoben.
Die Notwendigkeit sehe ich ein, aber die Bauarbeiten machen es unmöglich, die Stadt gemütlich zu erkunden oder auch nur zu erkennen. Von Juli an ist aber Ruhe bis zum Herbst, man will die Touristen, die nicht wie ich vor Saisonstart eintrudeln, verschonen.
Zum Glück gibt es richtig gute Zufluchtsorte – wie die öffentliche Bücherei, die hier zu jedem kleine Ort gehört. Mir ist, als fehlte dieses System in Deutschland auf dem Land. Die Bücherei von Southwest Harbour hat viele große, hohe, holzvertäfelte Räume, in denen die Bücher sich zu Tausenden die Regale teilen. Kinder haben einen eigenen Raum, es gibt einen für Jugendliche, einen zum Zeitunglesen, einen für Computer-Nutzung, einen für Lesungen. Carol ist Mitglied im Vorstand. Ehrenamtlich, natürlich.
So wie sie auch ehrenamtlich Essen auf Rädern ausfährt und Spenden einsammelt für die Ausgabe von Essens-Gutscheinen an Bedürftige. Und sie fährt Senioren, die nicht mehr selbst fahren können, auf Wunsch hin und wieder mit dem Auto von hier nach dort, dafür gibt es einen eigenen Verein. Senioren auf Rädern, könnte man den nennen.
Und dann wäre da auch noch Carols Kirchengemeinde, die ein gewisses Maß an Einsatz fordert, etwa bei Basaren. Sie hilft, wo sie kann – und hat sich so an einem einstmals fremden Ort gleichzeitig ein dichtes soziales Netz aufgebaut.
Unser Spaziergang endet im früheren Gebäude der Grundschule. In dem alten, für die Schule zu klein gewordenen Holzhaus werden jetzt Fitness- und Bastelkurse ebenso wie Vorträge angeboten. Dieser wird von der Historical Society des Ortes, der historischen Gesellschaft, veranstaltet. Also vom Heimatverein. Und hier ist nun Bob Quinn, der Geschichtenerzähler.
Sein Publikum ist nicht groß, und die Vorsitzende stellt bei ihrer Begrüßung die Hälfte der Gäste noch als Vorstandsmitglieder des Vereins vor. Damit erzählt allein der Rahmen der Veranstaltung eine Geschichte – nämlich die, die überall erzählt wird, vom fehlenden Interesse an altmodischem Zeugs wie diesem. Dabei ist es wunderbar. Und es gibt sogar selbst gebackene Brownies und Eiswasser aus kleinen Plastikflaschen.
Ich werde als jüngster Gast des Abends vom Redner persönlich begrüßt. Bob Quinn ist ein netter Mann. Und einer, der es sehr bedauerlich findet, dass die jungen Leute heutzutage höchstens noch ihre Großeltern kennen, manchmal nicht einmal über diese vier ihrer Vorfahren alles wüssten. Geschweigedenn über die Generationen davor. Bobs Familie lebt seit 1844 Jahren auf Eagle Island, und er kann sie zurückverfolgen bis zu demjenigen seiner Vorfahren, der die Insel einst für 1500 Dollar gekauft hat, Samuel Quinn.
Es gibt viele Eagle Islands in Amerika. Diese Insel liegt zwischen North Haven und Deer Isle – und damit in der Penobscot Bay. Aha: Bobs Großmutter kam von Vinalhaven. Und die Kinder wurden in Camden zur Schule geschickt. Hier wird nur weiter bestätigt, was Christie auf Deer Isle erzählte – Boote waren das Haupt-Verkehrsmittel der Menschen hier, und die ganze Inselwelt der Bay war ihr Zuhause.
Für Bob ist sie das bis heute. Er und seine Frau wohnen seit Jahren alleine auf Eagle Island. Sie haben Strom über Solarzellen und Internet über das Smartphone. Er besorgt das Postboot, zweimal die Woche verlässt er die Insel und fährt aufs Festland. Tochter und Enkel verbringen den Sommer bei ihnen, doch es sieht so aus, als könnten Bob und seine Frau die letzten Quinns sein, die das ganze Jahr über auf Eagle Island leben. Es ist ihm anzusehen, dass ihm dieser Gedanke nicht behagt – aber auch, dass er weiß, wie die Zeit sich geändert hat. Für das harte Leben auf so kleinen Inseln ist kaum mehr jemand zu haben. Nicht zuletzt, weil es keine Jobs gibt.
Bob erzählt launige Anekdoten aus seiner Familiengeschichte – wegen seines ausgeprägten Maine-Dialektes für mich nicht immer leicht zu verstehen. Aber die Gedichte seines Onkels deklamiert er klar und deutlich. Unter anderem machte sich dieser Onkel 1929 über die Weltwirtschaftskrise lustig und über das Bankensystem, das ihm sein Geld geklaut habe. „When I get my money back – I’ll keep it in my pants“, schlussfolgerte er damals schon.
Sein Neffe erzählt nun, dass dieser Onkel die Insel verließ, um an einem trockeneren Ort sein Glück zu suchen. Er kam bis New Mexiko, wo er schließlich starb. Sein Vater wäre gerne zur Beerdigung gefahren, aber New Mexiko sei dann doch zu trocken gewesen. Denn der Vater sei nur dorthin gefahren, wo er mit einem Boot anlegen konnte.
Das letzte Foto des Abends ist nicht von Bob. Ich mag es aber so gerne, deshalb zeige ich es, obwohl ich versäumt habe, den Träger dieser besonderen Kappe um sein Einverständnis zu bitten. Sie lässt ihn als Mitglied der 24. Infanteriedivision der US-Armee erkennen und als Veteran des Zweiten Weltkriegs.
Ich habe den Mann angesprochen. Er war nicht in Deutschland, wie ich zuerst vermutet und sogar gehofft hatte. Weil mir plötzlich klar wurde, dass ich noch mit keinem Amerikaner gesprochen habe, der im Zweiten Weltkrieg in Deutschland war. Dieser nette Herr war aber auf den Philippinen im Einsatz. „Wir haben die Philippinen befreit“, sagte er mir. Egal wo er nun war – dass er 2014 noch diese Mütze trägt und so zeigt, dass dieser Einsatz sein Selbstverständnis ein Leben lang geprägt hat, das hat mich berührt.
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