Ich sitze in der kleinen Lobby meiner Pension. Der Raum ist an zwei Seiten offen, mit Blick auf die Gassen, die an der Hausecke aufeinander treffen. Draußen ist einiges los: Alte Frauen machen schlurfend und gebeugt Einkäufe, junge Männer schieben ihre Tuktuk-Obstläden vorbei, ein Motorroller nach dem anderen knattert ums Eck. Die wenigen Autos passen nur mit Mühe durch, Touristen hab ich außer mir bisher heute zwei gezählt. Davon hatte mir niemand erzählt: Ein Dorf in der Megacity. Ich hatte Angst davor, mich in Bangkok verloren zu fühlen. Als ich eben einen Schritt vor die Tür gemacht habe, winkte mir die Frau zu, bei der ich gestern Hühnersuppe gekauft habe. Ich bin seit 24 Stunden hier. Kaum zu glauben, was in das bisschen Zeit passt, wenn man Glück hat. Gäbe es keine Kakerlaken, wäre mein Glück vollkommen. Aber zurück zur netten Nachbarin, hier ist sie:
Schon im Zug vom Flughafen in Richtung Stadt habe ich gemerkt, dass es mir hier gefällt. Die geheimnisvolle Wirkung von Orten – so ganz kann man es nie wissen, bevor man nicht da gewesen ist. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass die vielen Teenager im Zug, die offenbar auf dem Weg zur Schule waren, so vertraut wirkten, als wäre ihre Welt dieselbe wie die aller Teenager. Oder es lag an den Vorstädten, voller Grün und Wasser, Palmen überall. Eigentlich bedeuten Palmen mir nicht viel, aber plötzlich haben sie mich berührt. Vielleicht, weil sie mich daran erinnert haben, dass ich jetzt tatsächlich in der Fremde bin. An einem Ort, der mir so fremd ist, dass ich ihn bislang in meinem Leben fleißig vermieden habe. Ich hatte mein Desinteresse schon lange durchschaut, es war vor allem eine Furcht davor, nicht zu verstehen und nicht verstanden zu werden.
Danee hat mir gezeigt, dass man sich auch ohne gemeinsame Sprache verstehen kann. „Are you ok?“ ist in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft der einzige ihrer Sätze, dessen Bedeutung ich genau erfassen kann. Yes, yes, sage ich, auch, wenn ich gerade unter erstaunlichen Schmerzen leide: 12 Stunden im Flugzeug und das Herumschleppen von Gepäck – ich bin im Grunde ein Wrack, und Danee soll mich bitte reparieren. Ich liege auf einer Liege, im eisigen Sturm der Klimaanlage, eingelullt von amerikanischen 80er-Jahre-Popsongs aus einem scheppernden Radio. Sie turnt auf mir herum. „Are you ok?“ „Yes, Yes.“ Sie ist nicht zufrieden mit meiner linken Schulter, ich verstehe das auch ohne Worte. Aua.
Nach der Massage, ich will gerade aus dem Salon schweben, bedeutet sie mir, dass der Tee dort für mich sei. Ingwertee. Ich fühle mich sehr gut behandelt. Wir setzen uns in den Empfangsraum des Salons und unterhalten uns. „Are you from Bangkok?“, frage ich sie. Im Grunde eher so: Ich zeige auf sie und sage „Bangkok?“. No no, sagt sie und nennt einen Ort, den ich nicht kenne. „Far from here?“ Fragendes Lächeln. Ich gestikuliere, sie fängt an, Orte aufzuzählen, die in der Nähe ihrer Heimat liegen (glaub ich). Chiang Mai höre ich. Oh, Chiang Mai, I am going there, sage ich und zeige auf mich. Sie freut sich. Daumen hoch, Chiang Mai beautiful. Daumen hoch auch zur Information, dass ich aus Deutschland komme. Germany, super. Und dass ich alleine reise: auch super. Ich erfahre, dass sie seit fünf Jahren Masseurin ist. Wo sie es gelernt hat, verstehe ich leider nicht. Ich darf sie fotografieren. Am Abend komme ich noch einmal an ihrem Salon vorbei, sie sitzt immer noch dort.
Nach der Massage gehe ich Kaffeetrinken, nur ein paar Häuser weiter in dieser kleinen Straße. Die Frau im Café ist in Sathorn aufgewachsen, in diesem Viertel. Sie serviert mir den Kaffee in ihrem kleinen Outdoor-Laden und fängt gleich freundlich an mich auszufragen, in ziemlich gutem Englisch und mit großem Interesse an meiner Reise. „Danke“ sagt sie zum Abschied auf Deutsch. Das hat sie von ihrer Freundin gelernt, die in Nürnberg lebt. „Nürnberg is nice little City“, sagt sie, die Frau aus der 12-Millionen-Stadt.
Am Abend, nach einem Ausflug in einen weniger dörflichen Teil Bangkoks und dem einzigen Moment des Tages, an dem ich kurz dachte: Hilfe, jetzt hab ich mich verlaufen, sitze ich in der Lobby hier im Teakholzhäuschen. Mit der Angestellten der Pension und einer Nachbarin, die mir vorher den Weg zum Bahnhof Hua Lamphong erklärt hatte. Wir erzählen uns was, von dem wir jeweils sicher nur die Hälfte verstehen. Zum Beispiel von der Kakerlake, die vorher aus meinem Waschbecken gekrochen kam. Ich habe ihnen vorgespielt, wie ich mich erschreckt habe. Und erklärt, dass ich Kakerlaken nicht gewöhnt bin von zu Hause und deshalb etwas empfindlich reagiere. No offense. Ein gutes Gespräch, denn so stellen sie später keine Fragen, als ich im Nachthemd runter gelaufen komme in die Lobby: There is another animal!!! Die Nachbarin springt auf, holt giftiges Spray aus ihrem Haus gegenüber, rennt in mein Zimmer und benebelt das Tier und uns selbst. Vier Zentimeter große Kakerlaken geben nicht so schnell auf. Am Ende muss sie es mechanisch erledigen, mit dem Mülleimer. Meine Heldin.
Das alles innerhalb von 24 Stunden. Und dabei habe ich das Gespräch mit dem Tuktuk-Fahrer noch gar nicht erwähnt. Jetzt werde ich mir erstmal die Namen meiner neuen Bekannten aufschreiben lassen. Mit einmal Vorstellen ist es ja bei dieser Sprache nicht getan. Und dann suche in den Fluss. Der muss hier irgendwo sein.
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