Mit dem Boot hätte ich nur eine halbe Stunde von Rockland in diese Gegend hier gebraucht. Sagt Christie, die mir in ihrem Imbiss auf Deer Isle Hummer serviert. Zehn Meilen von hier, hügelauf- und hügelabwärts, an Aussichtspunkten vorbei, wo einem die ganze Inselwelt der Penobscot Bay zu Füßen liegt, schließlich über die Brücke, die Deer Isle seit genau 75 Jahren mit der Blue-Hill-Halbinsel verbindet.
Für die Jubiläumsfeier werden Zeitzeugen gesucht: Wer erinnert sich an den Tag im Jahr 1939, als Deer Isle Straßenanschluss ans Festland bekam? Die Frage stand in der Lokalzeitung. Wer sich erinnert, bekommt bei den Feiern einen Ehrenplatz auf der Tribüne.
Tim, der Bäcker, hatte mir für einen Besuch auf der Insel das Café zweier Freunde empfohlen, 44 North heißt es. Cafés sind immer gute Anlaufpunkte auf unbekanntem Terrain. Leider war gestern Sonntag, und anders als Tim arbeiten seine Freunde nicht sieben Tage die Woche. Für planlose Reisende, wie ich es gestern war, kann so eine verschlossene Tür atmosphärische Störungen zur Folge haben. Was nun?
In der Lokalzeitungs-Beilage über das Lupinenfestival am kommenden Wochenende, die ich wegen ihrer handgezeichneten Insel-Karte dabei hatte, fanden sich drei weitere Café-Adressen. Ich fing an, kreuz und quer über die Insel zu fahren – verloren gehen kann man ja an solchen Orten nicht. Und dann auch wieder doch.
Nervous Nelly’s Jams and Jellies, meine zweite Wahl, konnte ich nicht finden. Als ich endlich ein kleines Hinweisschild sah, war ich zu müde um zu erkennen, wohin genau es eigentlich zeigt. War ich schon vorbei gefahren? Oder kommt es da hinten erst? Ja, ich gebe es zu: Ich habe aufgegeben.
Aber, wie sagte Lila, die Freundin von Tims Cousin Nick, am Pizza-Abend: „It’s gonna work out, and if not, something else will.“ Mehr braucht man eigentlich nicht zu wissen auf Reisen. Man muss nur auch ein kleines bisschen dafür tun. Ich tat ein kleines bisschen, indem ich nicht an dem anscheinend einzigen geöffneten Café der Insel vorbeifuhr, das ich auf dem Rückweg nach Brooksville links liegen sah. Obwohl ich es nicht gerade ansprechend fand. Manchmal kommt es darauf eben nicht an.
Bald saß ich auf einer Bank in der Ecke mit meiner ersten Hummermahlzeit in Maine vor mir und mit Christie am Nachbartisch. Und dann fragten wir uns gegenseitig ein bisschen aus.
Christie vermutet, dass ihr Vater, Lobsterman seit mehr als 60 Jahren, Sonny von Vinalhaven kennt. Damit brachte sie mir ein bisschen mehr Verständnis für die Zusammenhänge in der Bucht bei. „If you had a boat, it would take you to Rockland in half an hour“: Mit dem Auto an der zickzackigen Küste entlang dauert es zweieinhalb Stunden.
Christie brachte mir noch mehr bei, indem sie bestätigte, was ich gerade in Elizabeth Gilberts Roman „Stern Men“ („Der Hummerkrieg“) lese, der hier in jeder Buchhandlung ganz vorne liegt: Der Hummerfang kann Menschen zu Feinden machen. „Oh ja“, sagte sie und erzählte von einer berühmten These über das komplexe soziale Netz von Lobster-Fischern in Maine. Sie würden wie Gangs in den großen Städten leben. „The Lobster Gangs of Maine“ heißt dann auch das Buch, das dieses Netz untersucht.
Christie fasst es so zusammen: Hummerfischer kennen in ihrem Umfeld andere Hummerfischer, die sie im Notfall beschützen würden und solche, von denen sie sich grundsätzlich angegriffen fühlen. Und es kommt zu Racheakten, wenn sich jemand falsch verhalten hat. Etwa, weil er in vermeintlich fremden Gewässern gefischt hat. Leinen werden durchgeschnitten, Hummerfallen zerstört. „Nicht, dass das erlaubt wäre oder dass ich das gut fände“, sagte Christie, „aber es kommt vor.“
Ob sich Christies Vater und Sonny wohl irgendwann in den vergangenen sechs Jahrzehnten wegen des Hummers in den Haaren lagen? Oder waren sie einander zugetan? Und hat Christie selbst nie darüber nachgedacht, Lobsterfrau zu werden?
Nein, sagt sie. Nur, wenn sie Geld gebraucht hätte, als Teenager, dann hätte ihr Vater sie mit aufs Boot genommen und sie für ihre Hilfe bezahlt. Das Leben mit Hummer und Meer hat sie trotzdem geprägt. Sie sagt, ihr Grundrhythmus sei immer noch der des Leuchtturms, neben dem sie groß geworden sei. Alle 15 Sekunden habe das Licht geleuchtet und dabei ein bestimmtes Geräusch gemacht. Und 15 Sekunden, das ist ihre persönliche Zeiteinheit, wenn sie etwas abwartet oder arbeitet. „Die 15 Sekunden sind in meinem Kopf, für immer“, sagt sie.
Christie arbeitet nicht nur in ihrem Imbiss. Sie malt auch. Kunst ist wichtig auf Deer Isle. An jeder zweiten Straße steht ein Schild, das auf eine Galerie oder ein Atelier hinweist. Es gibt eine Kunsthandwerk-Hochschule, viele Studenten sind geblieben. Christie hat nicht den Ehrgeiz, von ihrer Kunst zu leben. „Die meisten Bilder spende ich“, sagt sie, „wenn mal ein Benefiz-Basar ist.“
Aber sie hat Fotos von ihren Arbeiten auf ihrem Smartphone, und sie zeigt sie gerne. Derzeit malt sie Wolken und Wellen. Wolken und Wellen. Clouds and Waves, sagt sie und lacht fast verlegen. Sie wisse auch nicht, wieso, es sei gerade so eine Phase.
Eine sehr naheliegende Phase für jemanden, dessen innere Uhr nach dem Rhythmus eines Leuchtturms tickt.
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