Autos, Sauberkeit und Ordnung: Das sind auch hier oft die ersten Begriffe, die den Menschen zu Deutschland einfallen. Aber längst nicht nur. Eine der unerwartetsten Aussagen im Smalltalk über meine Herkunft kam von dem netten Handwerker auf Vinalhaven, der zwar den von mir gesuchten Wanderweg nicht kannte, aber dafür religiöse Helden aus dem NS-Widerstand: „Mein Lieblingsdeutscher ist Dietrich Bonhoeffer“, sagte er.
Damit kam ich noch sehr gut zurecht, ich war nur erstaunt, wie selbstverständlich er diesen Namen aussprach. Er kam aber dann noch zu folgender These: Deutschland bräuchte mehr Leute wie Bonhoeffer. Es sei ja leider fast kein christliches Land mehr.
Ich versuchte es, wie um ihn zu trösten, mit einer Zahl, an die ich mich vage erinnerte – immerhin 60 Prozent der Niedersachen protestantisch oder so -, aber für ihn galten nur richtige Christen, die auch als solche aktiv sind in der Kirche und die Botschaft verbreiteten, und da glaubte er nicht an die 60 Prozent. In Maine gebe es davon auch zu wenige, fand er.
Da konnte ich nicht mehr viel tun, außer ihm zu versichern, dass auch nicht aktive Christen und sogar Nicht-Christen gute Menschen sein könnten. Wirklich! Er sah nicht überzeugt aus, blieb aber die ganze Zeit sehr freundlich und unaufdringlich – und das bei so einem Thema. Über die Bedeutung von Dietrich Bonhoeffer waren wir uns ja aber sowieso einig gewesen.
Viel einfacher ist es doch, schön zu nicken und zu lächeln, wenn jemand die Ordnungsliebe der Deutschen lobt. So wie Ed Sommerfeld, der Präsident des Senior-Centers in New York: „Mein Vater kam aus Deutschland, er war immer sehr gut organisiert und sehr ordentlich“, sagte er, ohne das eine Spur zu hinterfragen. Der Zusammenhang war für ihn eine Tatsache.
Als Jude könnte er auch ganz anders reden. Aber als es im Gespräch dann plötzlich doch noch um die NS-Judenverfolgung ging, differenzierte er, ebenfalls ganz selbstverständlich, zwischen den „guten“ und „bösen“ Deutschen. Und ob es nicht tragisch gewesen wäre, wenn ein guter Deutscher, der eigentlich nichts mit den Nazis zu tun hätte haben wollen, schließlich davon profitiert hätte, dass die Juden verfolgt wurden. In dem er etwa den Besitz eines inhaftierten Nachbarn billig bekommen hätte.
Das sind so Fragen – für die Antwort hätte ich gerne mehr Zeit und Ruhe gehabt. Aber Ed sah mich mitten im lauten Lunch-Trubel unter 60 plaudernden Menschen ganz offen an und wollte einfach nur ein paar Sätze von mir dazu hören. Es hatte ihn beschäftigt. Ich stimmte ihm zu, dass es so etwas gegeben haben muss und erzählte ihm, dass solche fragwürdig zustande gekommenen Besitzverhältnisse teilweise bis heute, oder heute wieder, ein Thema sind in Deutschland.
Schon das zweite etwas heikle Deutschland-Gespräch – und immer noch keine Spur davon, dass ich oder irgendjemand dabei angegriffen würde. Eliot und Barbara, die Öko-Bauern, erzählten mir hingegen von einer Geschichte, die einer ihrer Freunde als Austauschstudent in Deutschland erlebt hatte: In einer Kneipe hätte man sich über die Amerikaner lustig gemacht, die ja keine Kultur hätten, und nicht mal ein ordentliches Wort für „Prost“ kennen würden.
Das war wohl in den 1980er Jahren. Ich erinnere mich, dass der Gedanke, die Amerikaner hätten keine Kultur, damals sehr populär war. Ich hörte die Geschichte und schämte mich nach langer Zeit mal wieder ein bisschen, weil diese Art von Unverschämtheit wirklich so richtig blöd ist.
Lustige Pointe: Der Amerikaner verzagte nicht, sondern bestand darauf, dass man in den USA sehr wohl einen Trinkspruch kenne: „Up yours“. Den Rest des Abends hätten die Deutschen dann fleißig „Up yours“ gesagt beim Zuprosten. Und was bedeutet das? Nun ja, es ist noch eine Nuance schlimmer als „Leck mich“. So war der US-Student damals doch der, der zuletzt gelacht hat.
Abgesehen davon gibt es aber auch Amerikaner, die selbst von ihrem Land sagen, es habe keine Kultur. Und damit meinen: keine Geschichte. Bemerkungen wie die von Eric, einem weiteren Neffen meiner Vermieterin Lake, höre ich öfter: „Oh, und ihr habt all diese tollen alten Häuser. Ich meine, die Geschichte geht ja bei euch Tausend Jahre und mehr zurück. Für dich ist das vielleicht nichts Besonderes. Aber ich finde das beeindruckend.“ Dann noch in einem Zusatz: „Gut, wir haben die lange Geschichte der amerikanischen Ur-Einwohner, aber die haben wir ja zerstört.“ Und das klingt dann ziemlich verschämt.
Mit der Biobäuerin und Journalistin Barbara wurde ich mir darüber einig, dass dies natürlich längst eine lange und ganz eigene Geschichte der US-Amerikaner ist: ein neues Land aufzubauen, in den unergründeten Westen zu ziehen und irgendwo in der Wildnis zu siedeln, dazu die alles begleitende Hoffnung, dass es dort, wo man hingeht, besser ist als dort, wo man gerade herkommt.
Und diese Geschichte hat einen großen Teil der US-amerikanischen Kultur geprägt, da lässt sich weder dem einen noch dem anderen ein Nicht-Vorhandensein unterstellen. Abgesehen davon, dass die ersten Siedler, die hier vor ziemlich vielen Jahrhunderten ankamen, sowieso viele weitere Jahrhunderte europäischer Geschichte in sich trugen.
Ein heikles Thema nach dem anderen – aber weiter kein bisschen böses Blut in den Gesprächen. Trotzdem zur Abwechslung mal wieder etwas sehr Einfaches, zu dem mir allerdings fast nichts eingefallen ist außer den alten Zügen der Deutschen Bahn: „Freunde von mir waren mal in Deutschland, und sie sagten, es sei so sauber. Stimmt das?“, fragte die Fahrkahrten-Kontrolleurin auf der Fähre nach Vinalhaven.
Ebenfalls immer wieder gerne genommen: „Die deutschen Autos sind die besten. Mercedes und BMW. Seit ich in Maine lebe, habe ich zwei 300-Dollar-Strafzettel für zu schnelles Fahren bekommen. Deshalb habe ich meinen BMW verkauft. Jetzt fahre ich Toyota“, sagte Gigi, ein Künstler aus New York, der der Liebe und der billigeren Miete wegen nach Camden gezogen ist. Er war schwer enttäuscht, als ich ihm auf seine Frage hin erzählte, dass ich mir in Deutschland einen Honda mit meiner Schwester teile. Das hatte er sich irgendwie glamouröser vorgestellt.
Etwas ganz Neues über Deutschland habe ich von Nathan erfahren, einem der Freunde von Tim. Er wollte von mir bestätigt haben, dass die Deutschen zu Neujahr Holzscheiben anzünden und sie brennend von einer Schanze in die Landschaft werfen. Davon hatte ich noch nie gehört, aber wir haben es dann ergoogelt: Es stimmt fast. Unter anderem in Thüringen und in Nordfriesland werden winters brennende Dinge durch die Gegend geworfen. Alte germanische Bräuche, grrrr.
Nathan fragte dies bei dem großen gemeinsamen Abendessen, zu dem ich von Lake eingeladen worden war. Eine der ersten Gelegenheiten, bei der ich die vielen Leute aus dem Bäckerei-Umfeld einmal in Ruheposition erlebte – sie sind sonst nur in Bewegung und bei der Arbeit. Nun hatten sie Zeit, und während wir Spargel, Hähnchen, Löwenzahn-Kichererbsen-Salat und Ofenkartoffeln aßen (von Eric und Cameron gekocht), fragten sie ein bisschen nach Deutschland.
Was Tim, dessen Urgroßvater aus Hamburg stammt, vor allem faszinierte, waren die Entfernungen in Europa. „Wie ist das bei euch, spielen die Grenzen zu den anderen Ländern eine große Rolle?“, fragte er. „Ich kann mir das nicht so recht vorstellen, es liegt alles so nah beieinander.“
Die Nähe unserer kleinen Stadt zu Amsterdam zum Beispiel beeindruckt hier jeden. Und vor allem, dass wir diese Nähe nur als relativ begreifen. Ich werde heute weiterfahren Richtung Mt. Desert Island, anderthalb Stunden dürfte die Fahrt dauern. Aber für die Leute auf der Blue-Hill-Halbinsel ist das alles immer noch ihre Gegend. Weite Autofahrten gehören auch im Alltag dazu, hügelauf- und hügelabwärts, ich kenne das jetzt und frage mich immer, ob man der Fahrerei nicht irgendwann überdrüssig wird. Aber nein, das sei eben so.
Nach dem Essen wurde übrigens Fußball geguckt – weil zwei der Jungs sich dafür zumindest ein bisschen interessierten. „Fußball ist eine große Sache in Deutschland, oder?“, davon hatten sie schon gehört. Wie sahen nur die letzten zehn Minuten des USA-Ghana-Spiels. Unter den Zuschauern musste erst noch geklärt werden, wie lange so ein Fußballspiel eigentlich dauert. Ich war die Expertin in der Runde.
Sie fanden das Spiel toll, aber eine emotionale Anteilnahme war nicht zu spüren. „Hast Du schon mal mit Leuten Fußball geguckt, die keine Deutschen waren?“, fragte Cameron. Und ich sagte: „Ja, aber nur mit anderen Europäern, und die reagieren irgendwie anders.“ Dann spielte ich ihnen vor, wie sie eigentlich fingernägekauend auf der Sofakante sitzen müssten und jede Bewegung auf dem Spielfeld („Das ist echt ein großes Spielfeld, oder?“) mit Ohhs und Aahs begleiten müssten. Sie fanden es lustig.
Fernseh-Bilder aus Chicago zeigten dann aber, dass es auch in Amerika ordentliche Fußballfans gibt, die zusammen vor Großbildleinwänden stehen und ausgelassen jubeln. Hier in in Brooksville ist man eher für Eishockey zu haben.
Und ich habe außerdem einen der verbliebenen Tour-de-France-Fans getroffen, das war auf Vinalhaven, der Mann vom Naturschutzreservat: „Jan Ullrich mochte ich von Anfang an nicht so richtig“, hatte der gesagt, „aber ich bin ein großer Fan von Jens Voigt. Als ich ein Interview mit ihm sah, wusste ich sofort: Das ist ein ehrlicher Mann.“ So. Und zur Fußball-WM feixte der Naturschützer: „Hehe, wir haben euren Trainer!“
Vielleicht am allermeisten erstaunt haben mich aber die Fragen von Eliot Coleman, dem Öko-Bauern, dessen Buch „The Winter Harvest Handbook“ im August auf Deutsch erscheint. Er wusste einfach etwas mehr über Deutschland als die anderen. Zum Beispiel, dass die Geburtenrate dort sehr niedrig ist. Und dann meinte er: „Erzähl mal, wie war das in Deutschland mit den Gastarbeitern, sind sie unter sich geblieben oder haben sie sich integriert?“
Von wegen „Die deutschen Autos sind die tollsten“: Ich habe schon ein bisschen mehr zu tun als nur zu nicken und zu lächeln. Zum Beispiel, zum Bootsanleger von Brooksville zu fahren und dort über alles nachzudenken. Kann man sich dafür einen schöneren Ort vorstellen?
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