Unterwegs mit Niklas

Avatar von Frl. Grankvist

Ich war zu allem bereit. Hauptsache, ich käme noch vor Geschäftsschluss in Berlin an. Den Schlüssel für die Wohnung hatte K. in einem Laden hinterlegt, wo ich ihn abholen sollte. Selbst mit drei Stunden Verspätung wäre das noch zu schaffen, kein großer Zeitdruck also. Nur ein bisschen Sorge, ob es vielleicht gefährlich sein könnte, heute mit dem Zug zu fahren. Oder mit dem Auto. Oder überhaupt auch nur das Haus zu verlassen. Aber ich hieß mich selbst einen Feigling und fuhr trotzdem los. Niklas, mein Neffe, brachte mich zum Bahnhof. Gelegenheit für Scherze über Niklas, den Sturm. Aber Niklas, der Sturm, war offenbar gar nicht zu Scherzen aufgelegt.

50 Minuten Verspätung waren angekündigt. Fand ich unter den gegebenen Umständen nicht so schlimm. Ich setzte mich fast entspannt ins Bahnhofs-Bistro, trank einen Milchkaffee der alten Automaten-Sorte und musste an Neuseeland denken. Wegen des guten Kaffees dort. Und wegen des freundlichen Stürmchens, das nach meiner Ankunft ein paar Tage ums Haus gefegt war. Es hatte seitwärts geregnet und im Ofenrohr gepfiffen. Aber das hatte mich nicht gestört, weil ich etwas Herbstwetter nach der Hitze in Thailand gemütlich fand.

Diese Stürme hier stören mich hingegen sehr. Mike und Niklas, alle beide. Sie übertreiben es einfach. Wie die am Haus rütteln, das hat was Distanzloses. Wie die Bäume entwurzeln und auf Gleise und Züge werfen, das ist fies. Und ich weiß, dass ich das zu persönlich nehme, aber was soll ich machen, wenn ein Sturm wie ein Mensch heißt und sich auch noch wie einer benimmt. Also, wie ein schlecht erzogener. Und das im Frühling.

Nach zehn Minuten war der Automatenkaffee getrunken, und ich las auf meinem Handy, dass Niklas (der Sturm) im Laufe des Tages noch schlimmer werden würde. Sah mich schon irgendwo in Sachsen-Anhalt auf offener Strecke Stunden im Zug verbringen, weil noch ein paar mehr Bäume entwurzelt wurden. Mein Proviant: zwei Bücher, Äpfel, Brot, ein halber Liter Wasser. Das würde nicht lange reichen.

Kurz bevor die 50 Verspätungs-Minuten vergangen waren, meldete die Bahn, dass es nun 100 Minuten seien. Die Menschen trugen es auf den ersten Blick mit Fassung. Vor zehn Jahren hätte das vielleicht noch anders ausgesehen. Aber jetzt sind alle ununterbrochen mit all ihren relevanten Lieblingsmenschen in Kontakt, es wird viel telefoniert und außerdem über die Situation gelesen, sich informiert und über die gewonnenen Erkenntnisse getwittert: Vielleicht haben die Leute damit mehr als früher das Gefühl, die Lage irgendwie unter Kontrolle zu haben, und regen sich weniger schnell auf. Nur ein Mann schimpfte „Es ist mal wieder eine Katastrophe“ in sein Handy. Besserwisser wissen: Das stimmt nicht.

Ich ging zum zweiten Mal zur Information. Einen Stempel „Zugbindung aufgehoben“ hatte ich schon. Aber ich hatte gerade nicht viel zu tun, also dachte ich, ich spreche mit der Informations-Frau noch ein bisschen über die Gesamtsituation. Ob ich vielleicht lieber morgen fahren sollte? „Aber nein“, sagte sie bestimmt, „wenn Sie erstmal im Zug sitzen, kann doch bis Berlin nichts mehr passieren!“ Und wenn noch mehr Bäume auf die Gleise fallen? Da machte sie eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, nee, fahren Sie mal nach Berlin!“ So herzlich und lieb sagte sie es, dass ich lachen musste und die Leute hinter mir auch. Ich ging und wartete weiter.

Ich finde es toll, wie die Zeit vergeht, auch wenn man nichts tut. Man steht herum und und guckt. Dann geht man sich vielleicht einmal alle Zeitschriften im Bahnhofsladen ansehen und hört dort einen Jungen, der seinen kleinen Bruder erzieht („Sei leise, Mann, es ist unhöflich, in einem Geschäft so rumzuschreien!“). Später hebt man noch Geld ab oder macht, wie alle, ein Foto von der Anzeigetafel. Man erklärt einer Frau, wo Gleis 4 ist und telefoniert ein bisschen. Man starrt mit den anderen auf die Anzeigetafel und hofft, dass ein Wunder geschieht.

„Hat die Dame gerade etwas über den Zug nach Stuttgart gesagt?“, fragte ein älterer Mann mit Hörgerät seinen Wart-Nachbarn. „Ja, der fällt aus“, sagte der. Ein junger, reiseerfahrener Typ. „Ich wurde umgebucht, soll jetzt über Hannover nach Stuttgart“, erklärte er noch, und ich hoffte, dass er den älteren Mann einfach mitnehmen würde. Die Stimme aus dem Lautsprecher ließ alle aufschrecken: nach Berlin jetzt 160 Minuten Verspätung. Das war auch der Zug nach Hannover. Es würde für alle Stuttgart-Reisenden ein besonders langer Tag werden.

Zeit für eine dritte Runde in der Information. Dort wurden die Mitarbeiter der Bahn langsam etwas offener: „Wer nicht unbedingt heute reisen muss“, sagte eine Frau mit roter Mütze und wissendem Blick, „der sollte es lassen“. Und dann wurde klar, was 160 Minuten Verspätung heißt: „Der fährt heute nicht mehr“, sagte meine neue Stamm-Beraterin. Gerade waren neue Bäume auf entscheidende Leitungen gefallen. Ich könnte höchstens über Bielefeld fahren, hieß es, los in einer halben Stunde, irgendwo umsteigen, in Berlin gegen 19 Uhr, knapp vier Stunden später als geplant. Zu unsicher, wegen des Schlüssels im Laden. Und bestimmt hätte die Fahrt, erstmal angetreten, noch etwa 1000 weitere langwierige Sturm-Wendungen genommen.

Ich war zu allem bereit gewesen. Aber jetzt nicht mehr. Die Info-Frau schrieb’s auf meine Fahrkarte: Fährt einen Tag später. Und dann, nach zwei Stunden am Bahnhof, fuhr ich wieder nach Hause. Eine echte Premiere für mich.

Wenn man erstmal einige Jahre erwachsen gewesen ist, macht man nicht mehr so oft Dinge zum allerersten Mal. Insofern bin ich bereit, die zwei Stunden nicht als verschwendete Zeit anzusehen. Sondern als eine weitere Erfahrung in meinem an Bahn-Erfahrungen so reichen Leben. Die Meteorologen haben versprochen, dass Niklas sich bis heute Abend beruhigt hat. Ich hoffe, sie sagen das nicht nur so. Denn morgen will ich nach Berlin.


2 Antworten

  1. Jule

    Ohje… na dann sehen wir uns wohl übermorgen leider nicht du weißt schon wo 😦 Schade. Aber ich wünsche dir trotzdem viel Spaß in Berlin! Und wann kommst du wieder? Dann treffen wir uns nämlich erstmal. Aber sowas von!

  2. Rekordnette Reisegesellschaft | Büro für alles was das Herz begehrt

    […] Ich weiß nicht, was los war: rekordnette Menschen in Wagen zehn. Und dann war der Zug auch noch pünktlich. […]

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