Mein Nachbar ist gestorben. Er hatte 50 Jahre in diesem Haus gelebt.
Ich kannte ihn nicht. Das muss gar nichts heißen, ich bin ja erst seit drei Monaten hier. Trotzdem verleitete mich die Tatsache, dass ich ihn nie gesehen habe, zu der Vorstellung von einem einsamen alten Mann, der allein starb. Das passiert, wenn man über Jahrzehnte immer wieder Schlagzeilen von einsam gestorbenen Menschen liest.
Dann hörte ich von meiner Nachbarin von gegenüber, dass dieser Mann zumindest eine Enkeltochter hatte, die ihn zuweilen besuchen kam. Das veränderte das Bild. Ich hörte außerdem, dass er 50 Jahre lang der Herr über den Hinterhof-Garten war. Bis fast ganz zum Schluss. Die fünf Stockwerke ist er runter gestiefelt, durch den Keller nach draußen, hat gebuddelt, gepflanzt, gemäht, gejätet und gegossen. Die Nachbarin sagte: Wir haben den Rasenmäher geerbt. Eine von uns muss das jetzt machen. Wäre der Nachbar noch da, er hätte es uns den Rasenmäher erklären können.
Ich bin froh, dass ich inzwischen solche lebendigen Dinge über ihn weiß. Ich wusste noch nichts davon, als die Müllmänner kamen. Was für ein Lärm, dachte ich, sieben Uhr morgens, und öffnete die Wohnungstür. Ein Mann in Orange polterte mit einer bis oben gefüllten Mülltonne die Treppe runter. Die Müllabfuhr: Ein Bild, das ich bis dahin nur zu ebener Erde gesehen hatte. Wir räumen oben die Wohnung aus, sagte der Mann, als ich ihn auf sein seltsames Verhalten ansprach. Dann polterte er seines Weges. Unten vor der Tür standen zwei große, orange Lastwagen bereit. Ich schloss die Wohnungstür. Stand kurz da. Dachte: Echt? Die schmeißen alles einfach weg?
Dann öffnete ich die Tür wieder. Und ging die Treppe nach oben. War das eigentlich illegal? Oder unschicklich? Es fühlte sich notwendig an. Ich machte einen Schritt in die Wohnung hinein: vier weitere Müllmänner. Und ein vollständiges Chaos. Die Wohnung sollte komplett geleert werden, so schnell es der Transport per Tonne durchs Treppenhaus erlauben würde. Im Wohnzimmer des verstorbenen Nachbarn lag ein riesiger Haufen Bücher zwischen schon ziemlich leer geräumten Schränken. Es ging mich überhaupt nichts an. Ich war nicht die richtige Person am richtigen Ort, und um mich herum wollten die Männer arbeiten. Trotzdem machte mich der Anblick traurig. Ich ging zurück in meine Wohnung.
Und dann ging ich wieder rauf. Ich wusste nichts über den toten Nachbarn. Vielleicht war er friedlich eingeschlafen und hatte vorher noch gesagt: Bitte schmeißt alles weg, wenn ich mal nicht mehr bin, es sind nur olle Plünnen, und Bücher habt ihr selbst. Vielleicht hat seine Familie die Dinge, die für sie wichtig waren, längst aus der Wohnung geholt, sich vom Rest wehmütig verabschiedet und dann die Müllabfuhr gerufen. Ich hatte keine Ahnung, nur ein kleines Aufstandsgefühl. Gegen diese radikale Entrümpelung einer Wohnung, in der noch wenige Wochen zuvor ein Mann gelebt hatte.
Sie könn’n hier allet mitnehm, wat sie wolln, sagte einer der Männer in Orange. Das stimmte wahrscheinlich nicht, rechtlich gesehen. Dass ich dann aber tatsächlich etwas mitnahm, erschien mir in dem Moment trotzdem nicht unrecht. Ich tat es mit dem Segen des Mannes, der noch stundenlang mit den Spuren eines langen Lebens diese 100 Stufen runterpoltern würde. Zwei winzige Büchlein, die bei der Tür zum einstigen Wohnzimmer auf dem Boden lagen, nahm ich an mich. In das Mini-Wörterbuch, Copyright 1929, hatte mein unbekannter Nachbar irgendwann seinen Namen geschrieben.
Später unterhielt ich mich mit der Nachbarin von gegenüber. Sie gab zu, dass die Wohnungs-Entrümplung eine traurige Angelegenheit gewesen sei. Aber sie sagte auch: Wer sollte sich nach meinem Tod für meine Fotoalben interessieren? Ich erwarte das von niemandem. Sie fand den Gedanken nicht schlimm. Das Leben geht vorbei, sagte sie. Gewiss. Eines Tages geht es vorbei, und dann müssen sich andere um den Garten kümmern.
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