Ich saß in der U-Bahn und las Lily Brett. Als ich auf Seite zehn angekommen war, hielt die Bahn am Alexanderplatz, ein älterer Mann stieg ein und setzte sich neben mich. Das erste, was ich von ihm wahrnahm, aus den Augenwinkeln, waren seine weißen Socken in Sandalen. Er trug eine Plastiktüte und hielt den Kopf gesenkt. Seinen Arm spürte ich fast an meinem Arm, sein Bein an meinem Bein. Das Buch, das ich las, hieß Uncomfortably Close. Ich fürchtete plötzlich, dass der Mann unangenehm riechen könnte.
Die Gedanken sind frei, aber manchmal beschämend vorurteilsbeladen. Der arme Mann roch überhaupt nicht unangenehm. Er war sehr gepflegt.
Ruth, die Hauptfigur in Lily Bretts Roman, freute sich in diesem Moment darüber, dass jemand auf der Straße über New York schimpfte. Für sie war es ein Zeichen von Heilung. Sie dachte daran, wie die Leute nach dem 11. September schlagartig aufgehört hatten, im gewohnten Maß über New York zu schimpfen. Wie sie sich plötzlich alle so nah waren. Alle gleich verletzlich und unglücklich. Das las ich gerade, als ich bemerkte, dass der alte Mann neben mir eine Fototasche aus seiner Plastiktüte holte. Er hatte offenbar einen Film vom Entwickeln abgeholt, falls das überhaupt noch irgendwo möglich ist.
Vielleicht also sah dieser Mann, der außer weißen Socken in schwarzen Sandalen noch eine dunkelbraune Cordhose und ein schwarzes Jackett trug, seine zu einem früheren Zeitpunkt gemachten Bilder gerade zum ersten Mal. Ein Erlebnis, dass ich für ausgestorben gehalten hatte. Noch ungewöhnlicher als sein ungeduldiges Öffnen der Fototasche war aber das erste Bild, das er daraus hervorholte und lange betrachtete: Es zeigte ein Grab. Ein frisches Grab, soweit ich das, ohne zu auffällig zu starren, erkennen konnte. Kränze, Blumen. Ein rotes Licht. Sofort tat mir der Mann leid.
Ich hatte keine Ahnung, wessen Grab er da fotografiert hatte, aber in meiner Vorstellung war es das seiner Frau. Und ich dachte, dass es seltener vorkommt, dass ein Mann zurück bleibt nach einem gemeinsamen Leben, öfter sind doch die Frauen am Ende allein. Wieder so ein schneller Gedanke. Vielleicht dachte ich ihn, weil mir der Mann dadurch noch mehr leid tat und ich das Gefühl mochte. Ein verbindendes Gefühl.
Fast erwartete ich, dass er anfangen würde zu weinen. Ich überlegte, ob ich ihm beim Aussteigen einen schönen Tag wünschen sollte. Dabei hätte es sein können, dass ihm das weder eine Freude bereiten würde, noch dass er überhaupt wünschte, ihm möge jemand eine Freude bereiten. Vielleicht war er nur Friedhofsgärtner und sah sich Dokumente seiner Arbeit an.
Ich konnte es nicht lassen, auf die Bilder zu schielen. Es waren, das beruhigte mich etwas, nicht 36 Aufnahmen des Grabes. Auf anderen war ein großes, schwarzes Auto zu sehen, in einer blassgelben Mietshauslandschaft mit Palmen. Vielleicht Italien. Ich fragte mich, ob das alles zusammenhing. Ob er seine Frau in der süditalienischen Heimat seiner Jugend beerdigt hatte und jetzt alleine zurück nach Deutschland geflogen war. Und vielleicht merkte, dass er seine Frau doch lieber in Berlin hätte begraben wollen.
Der Mann trug eine Brille, ein Gestell aus Metall, silberfarben. Ich konnte nicht erkennen, ob er traurig war. Oder ob er irgendetwas mit Italien oder einem anderen Land, in dem Palmen wachsen, zu tun hatte. Ich versuchte, mich wieder auf Lilly Brett zu konzentrieren, konnte aber nicht aufhören, an den Mann zu denken. Als ich ausstieg, sagte ich nichts zu ihm.
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