Ich weiß sehr wenig über Bob Dylan. Eigentlich nur, dass er ein ziemlich bedeutender Musiker ist. Und Poet. Und dass er offenbar noch lebt, denn im Radio haben sie ein Konzert für Oktober angekündigt. Es gab mal einen Film über ihn, in dem er von verschiedenen Schauspielern verkörpert wurde, je nach Lebenslage. Den Film habe ich gesehen, aber alles, was ich noch weiß, ist, dass Bob Dylan nicht besonders nett dargestellt wurde. Und ich weiß aus einem Tweet, dass ein Freund von mir nie etwas mit ihm anfangen konnte.
Das ist ungefähr alles. Und das ist doch seltsam, denn Bob Dylan ist für mich sehr wichtig. Vor 25 Jahren habe ich an einem Straßenstand in der Karl Johans Gate in Oslo eine Platte von ihm gekauft: Desire. Ich glaube, weil ich sie schön fand, den Namen des Sängers schon mal gehört hatte und sie nur 49 Kronen kostete. Und weil es ein warmer Sommerabend war. Ich hatte, wenn ich mich recht entsinne, gerade einen Anfall von Freiheitsglück und Lebensüberschuss: Hier stehe ich, in Oslo, allein in meinem eigenen Abenteuer, und ich kaufe mir jetzt dieses Platte, denn das Geld reicht und ich habe Lust dazu.
Ich habe nie nachgesehen, wann Desire entstanden ist. Ich weiß auch nicht, ob sie ein Hauptwerk von Bob Dylan ist, ein großer Erfolg war, als Klassiker gilt oder als unbedeutend. Das war immer egal, denn mir bedeutete sie ja etwas. Viel. Vielleicht hat der Moment des Kaufs einen Anteil daran, dass Desire mich von Anfang an bei jedem Hören an etwas erinnert hat, das größer ist als der Alltag. Sagen wir, an das Leben selbst. Oder so.
Acht Jahre lang stand mein Plattenspieler still im großen Flurschrank, weil ich meine Stereoanlage in ein hässliches Ikea-TV-Möbelstück neben den Fernseher geklemmt hatte und da irgendwie kein Platz mehr war. In all diesen Jahren habe ich die Platte nicht gehört. Vielleicht ein Ausdruck von mangelnder Tatkraft. Denn ich hatte ja Heimweh danach. Nicht dauernd, nicht immer gleich stark, aber immer mal wieder.
Ich hätte sie mir auf CD kaufen können oder bei iTunes, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Stattdessen habe ich einfach darauf verzichtet, die Lieder zu hören, die mich durch meine Jugend, das Studium und sechs Berufsjahre begleitet hatten. Bei Bedarf waren sie immer dagewesen, und dann plötzlich nicht mehr. Vielleicht war ich an irgendeinem Punkt nachlässig geworden. Hatte nicht darauf geachtet, dass es wichtig gewesen wäre, hin und wieder, tageweise, manchmal tagelang, nichts anderes zu hören als Oh Sister am I not a Brother to you. Don’t turn away, you’ll create sorrow. Oder Five to Ten, said Joey, and the Judge said: That’s excactly what you get.
Es gehörte nicht dazu, auf den Text zu achten, als ich die Platte kaufte. Englisch war noch fremd. Aber über die Jahre haben sich einzelne Zeilen in meinem Kopf eingeprägt. Ich weiß immer noch nicht genau, was Joey eigentlich angestellt hat, aber es rührt mich jedes Mal, wie der Richter ihn ins Gefängnis schickt, diesen Jungen, der zur Melodie eines Akkordeons geboren worden war. Er begleitet mein Leben seit who knows when.
Desire ist die einzige Platte, die ich seit 25 Jahren hören kann, ohne, dass sie klingt wie etwas aus der Vergangenheit oder aus einer bestimmten Phase meines Lebens. Sie ist immer aktuell. Wie macht sie das nur? Und wieso reicht sie mir, wieso habe ich nicht längst auch alles andere von Bob Dylan gehört?
Als ich umgezogen bin, habe ich meinen Plattenspieler aus dem Schrank geholt. Und ausprobiert. Er lief, als hätte ich ihn nicht acht Jahre ignoriert. Natürlich kam er mit nach Berlin. Hier steht die Stereoanlage jetzt nicht mehr eingezwängt. Sie steht auf dem Boden, und vielleicht bleibt dieses Provisorium bestehen, weil so für alles genug Platz ist.
Bedeutet es etwas, dass ich das erste Mal seit vielen Jahren in Ruhe Bob Dylan hören kann? Vielleicht nicht, aber es passt so schön (ich finde sehr gerne einen Sinn in allem): Ich habe meine Lieblingslebensbegleitmusik wieder, weil mein Leben wieder richtig ist.
Vor einem Jahr hat es angefangen, immer richtiger zu werden. So nach und nach. Gerade lese ich manchmal meinen eigenen Blog: Was hast du vor einem Jahr gemacht? Ich war gerade wieder zurückgekehrt von meiner USA-Reise. Die mich so froh gemacht hat. Die mich rausholen sollte aus dem Alltag. Oh, das hat sie. Aber das hat nicht gereicht, um den Alltag hinterher mit den schönen Erinnerungen zu beleben und okay zu finden. Bald, in wenigen Wochen, ist es ein Jahr her, seit ich meinen Job aufgegeben habe.
Mutig! Oder: Verrückt! Das war es, was die meisten Leute danach zu mir sagten. Vielleicht war es beides, aber es war auch sehr vernünftig. Ich habe mir gesagt: Es kann nicht sein, dass fortan alles misslingt und dein ganzes Leben den Bach runtergeht – nur, weil du gehst, ohne zu wissen wohin.
Jetzt weiß ich, dass ich recht hatte. Vorher hab ich es nur geahnt. Gehofft. Darauf gebaut. Ich steckte monatelang im Mittelteil meiner Geschichte, ohne das Ende zu kennen. Also, das vorläufige Ende. Das, was die Entscheidung, den Job zu kündigen, zum Beginn macht (obwohl alles doch schon viel früher begonnen hatte, wie immer). Weißt du noch, wie ich damals einfach gegangen bin? Fertige Anekdoten sind nicht so gefährlich wie Mittelteile, deren Ende noch ganz offen und unklar ist.
Aber die gefährlichen Mittelteile sind wichtig. Ohne sie gäbe es das glückliche Ende nicht, ohne sie wäre alles nichts. Im Mittelteil hab ich Abstand bekommen zum alten Leben und herausgefunden, wie das neue aussehen soll. Ganz langsam. Ich habe gewartet, bis ich wusste, was der nächste Schritt sein würde. Und dann der nächste. Und so weiter. Bis jetzt. Hier sitze ich und freue mich auf meinen neuen Job. In drei Tagen fange ich an. Ich freue mich über mein neues Leben, in dem natürlich sehr viel vom alten steckt. Zum Beispiel Bob Dylan, endlich wieder.
Wherever we travel, we’re never apart.
Ich erkenne ein gutes Schlusswort, wenn ich sie sehe. Das war eins. Aber ich muss noch weiter schreiben. Darüber, dass ich eine Pause mache mit diesem kleinen Büro hier. Eine Geschichte ist zu Ende, eine neue beginnt. Das Ende ist mal wieder Anfang zugleich. Und ich möchte gerne vorübergehend so tun, als gäbe es das Internet nicht. Zumindest nicht für meine Geschichten. Die erzähl ich jetzt erstmal offline, und dann sehen wir weiter.
Ich danke herzlich fürs Lesen. Wer noch nicht weiß, wie das damals war, vor einem Jahr, als diese Geschichte ihren Anfang nahm, der kann es hier nachschauen. Ansonsten rate ich, hin und wieder ein Buch zu lesen, in dem die Hauptfigur aus ihrem Leben ausbricht und etwas Neues wagt. Das tut gut. Und ich empfehle, natürlich, Bob Dylan.
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