Das Glück traf mich heute ganz unvorbereitet. Ich fuhr mit dem Fahrrad die Schönhauser Allee runter, wie so oft. Wollte die Torstraße überqueren, wie so oft. Doch etwas war anders. Es fuhren gar keine Autos. Stattdessen liefen da Leute. Und zwar sehr, sehr viele. Ähm, ach ja: der Berlin-Marathon! Zwei Überraschungen in einer. 1. Wieso wusste ich nicht, dass die auch hierher laufen würden? Und 2. Wieso war ich plötzlich so aufgeregt?
Ich näherte mich und begriff, dass hier bis auf Weiteres kein Durchkommen war. Das wäre kein Problem gewesen an einem normalen Sonntag, nur war ich auf dem Weg zur Arbeit. Das vergaß ich dann für einen ziemlich langen Moment, als ich mich unter dem Absperrband durchgemogelt und zu den anderen Zuschauern an den Rand der Strecke gestellt hatte.
Innerhalb von Sekunden lernte ich, wie das geht: Läufer anfeuern. Teil des Berlin-Marathons zu sein. Denn so fühlte es sich an. Ich sah, dass jeder Läufer seinen Vornamen auf dem Zettel mit der Startnummer stehen hatte. Amy-Louise, Matthew, Birgitte, Carlos, Frank: Namen lesen, laut rufen, applaudieren, Bravo! Kurzer Blickkontakt, manchmal ein Lächeln, ein Daumen-hoch, ein „Merci“ gar. Für einen winzigen Moment kreuzen sich unsere Wege. Die von Menschen, die seit Monaten für genau diesen Moment trainiert haben, und meiner.
Auf der anderen Straßenseite steht eine Samba-Gruppe und trommelt. Die Sonne scheint. Die Läufer kommen von überall her, aus der ganzen Welt – viele tragen Zeichen ihrer Herkunft an ihrer Kleidung. Ich komme nicht durch, kann die Straße nicht überqueren, aber das will ich auch gerade nicht. Es gibt zu viel zu sehen, zu hören und zu begreifen. Zwei Männer, Geschäftsreisende offenbar, lassen sich nicht so viel Zeit: Sie ziehen ihre schwarzen Rollkoffer hinter sich her, beginnen zu laufen, reihen sich ein in den Strom der Marathonläufer, und mogeln sich trabend auf die andere Straßenseite. Applaus.
Neben mir trägt eine Mutter ihr Kind, es streckt die Hand den Läufern entgegen: abklatschen. Das Kind lacht, die Läufer lachen. Jemand hat einen Coffee-To-Go-Becher auf der Laufstrecke fallen lassen, ein Läufer schießt ihn aus dem Weg, der Becher ist noch voll, landet spritzend vor meinen Füßen. Sorry, sorry, sorry!, ruft der Mann.
Marathon war für mich immer etwas Fremdes, etwas aus einer anderen Welt. Einer, in der Menschen Extreme suchen und körperliche Grenzen überwinden wollen. Mir war klar, dass und warum ein Marathon zu einem Ziel werden kann. Zu einem Projekt, das zu verwirklichen wie die Erfüllung eines Traums ist. Aber das war ein sehr abstraktes Verständnis, bis heute.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal mit so vielen Menschen gemeinsam denselben Moment erlebt habe. Für alle, die an diesem Morgen dort waren, war nur eins wichtig: Dass sich hier gerade Tausende von Läufern ihren Marathon-Traum erfüllen. „Lauf, Papa, lauf“, hatte ein Mann auf seinem T-Shirt stehen. Ich freute mich für ihn. Und für seine mir völlig unbekannten Kinder gleich mit.
Dann kam eine kleine Lücke in den Reihen der Läufer. Mir fiel die Arbeit wieder ein. Ich fasste mir ein Herz, griff mein Fahrrad und eilte mitten durch die Menge. Ein Läufer musste mir leider ausweichen, ich war nicht schnell genug. Diesmal war ich es, die sorry, sorry, sorry rief. Es kam ein Lächeln zurück.
Kommentar verfassen